Zwischenruf zum Besten für Berlin

„Schlimmes wird uns widerfahren“ muss man denken, wenn man die Reaktionen zum verkehrspolitischen Teil des Koalitionsvertrags auf Twitter, aber auch in Tageszeitungen wie „Berliner Zeitung“ oder „Tagesspiegel“ liest. Da ist vom Ende der Verkehrswende die Rede, das Auto gewinne wieder die Oberhand (die es in den letzten Jahrzehnten und bis heute immer hatte und hat!), A100 und TVO werden gegeißelt, der Straßenbahnbau komme zum Erliegen oder die Straßenbahn gleich abgeschafft. Viele der genannten U-Bahn-Projekte gingen gleich gar nicht, seien irreal und überflüssig. Und nun nominiert die CDU auch noch die „Cheflobbyistin der Berliner Baubranche“ zur neuen Verkehrssenatorin (Quelle: Tagesspiegel vom 12.04.2023).

Der Koalitionsvertrag
„Wir wollen ein mobiles und nachhaltiges Berlin. Unsere Mobilitätspolitik setzt auf ein Miteinander und nicht auf ein Gegeneinander. Der Öffentliche Personennahverkehr ist ein entscheidender Faktor für ein mobiles Berlin. … Der Ausbau des [ÖPNV] in Berlin … [hat] einen hohen Stellenwert. Dazu gehören S- und U-Bahnlinien ebenso wie die Straßenbahn, mit denen wir vor allem auch in den Außenbezirken das Mobilitätsangebot verbessern wollen.“ So beginnt auf Seite 55 der Teil zu „Mobilität und Verkehr“. Und ja, man bekennt sich auch zum Radverkehr. Nun ist so ein Koalitionsvertrag immer ein „Wünsch‘ Dir was“ und beschreibt in breiter Prosa, was man alles möchte. Eines aber ist sicher: erstens kommt es anders, zweitens als man denkt (die „Ampel“ im Bund kann ein Lied davon singen). Und so ein Koalitionsvertrag ist auch nicht dazu da, festzulegen, dass am 30. Februar 2029 um 11:17h der erste S-Bahnzug nach Gartenfeld fahren wird.

Missverständnis „Mobilitätswende“
Ging die Konfliktlinie um Raum und finanzielle Mittel jahrelang zwischen MIV und ÖPNV, so hat sie sich, das muss man den Lobbyisten des Radverkehrs zugestehen, seit Jahren verschoben. Unter Mobilitäts- bzw. Verkehrswende wird nun gemein-hin der Wandel vom MIV zum Radverkehr beschrieben. Folgerichtig verweist der verkehrspolitische Sprecher der CDU, Oliver Friederici, im rbb-Studio immer wieder auf die ÖPNV-Passagen im Koalitionsvertrag, während die Moderatorin in Richtung des Radverkehrs insistiert und das Gespräch sinngemäß mit der Bemerkung schließt, nun habe man zum Radver-kehr gar nichts gehört. Offenbar zählen aus Sicht der rbb-Abendschau ÖPNV-Projekte nicht zur Mobilitätswende, denn es war nicht der erste Beitrag in dieser Richtung. Insoweit ist dieser Vertrag aus unserer Sicht ein wohltuender Schritt nach vorne, weil er auch die Interessen der Menschen in den Blick nimmt, die nicht 20 km mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren wollen oder können, die aber vielleicht auch nicht Auto fahren können oder wollen. Oder diejenigen, die das Verkehrsmittel je nach Bedürfnis nutzen.

Und nun?
Es bleiben in der Restlegislatur ja nur noch drei Jahre Zeit. Tendenziell wird es die Straßenbahn schwerer haben, aber wer jahrelang hingebungsvoll diskutiert, wie denn nun die M10 den „Görli“ queren soll anstatt Nägel mit Köpfen zu machen oder es nicht vermag, den Knoten Ostkreuz an das Netz anzuschließen, darf sich auch nicht wundern. Andererseits ist der Ansatz, mit ihr die Außenbezirke erschließen zu wollen, aus unserer Sicht ein logisch richtiger. Wir finden ja schon lange, dass Spandau ein gutes Beispiel wäre, verkehrspolitisch ein neues Angebot zu machen und gleichzeitig auch stadträumlich etwas zu tun. Ein Blick nach Frankreich lohnt …

Und die U-Bahn-Projekte? Sich nun mit jedem einzeln hier auseinandersetzen zu wollen, sprengte den Rahmen. Vieles wird „geprüft“ und ob jemals eine Kleinprofil-U-Bahn Französisch Buchholz, das Falkenhagener Feld oder Falkenberg erreichen wird, wagen wir zu bezweifeln. Die U6 nach Lichtenrade? Parallelverkehr zur S2 bei noch bestehender Straßenbahntrasse (Parkplätze!) auf dem Lichtenrader Damm. Es steht also nicht zu befürchten, dass, siehe oben, die „Cheflobbyistin der Ber-liner Baubranche“ 2024 oder 2025 die Maurerkelle schwingen wird, um eines der genannten Projekte zu beginnen. Schön wäre es ja, wenn sie es mindestens bei der U3 zum Mexikoplatz tun würde.

Was man kritisieren kann: dass durch die genannten Projekte Planungskapazitäten gebunden werden, die für konkretere und vielleicht auch heute schon wichtige Projekte gebraucht werden.

Interessante Details …
… finden sich mehrere. Z.B. die Tatsache, dass die Koalition für den „S-Bahn-Betrieb aus einer Hand“ stehe. Da die Infra-struktur bekanntermaßen der DB gehört, kann das eigentlich nur heißen, dass man sich die Ausschreibungen „Nord-Süd“ und „Stadtbahn“ eigentlich sparen kann. Es sei denn, … aber ach, lassen wir das. Auch interessant: der „Stammbahn-Vor-laufbetrieb“ Wannsee bis Rathaus Steglitz wie auch die sinnvolle Verwendung der Goerzbahn finden Erwähnung im Koali-tionsvertrag. Und sogar das Berliner S-Bahn-Museum sowie das 100-jährige Jubiläum der S-Bahn, 2024, werden aufgelistet.

Outlook
Schlimmes wird uns also nicht widerfahren und, siehe oben, erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Wir finden: es stehen viele vernünftige Dinge im Koalitionsvertrag und wenn das tatsächlich auch gelebt würde, wäre das schon mal ein guter Anfang. Verkehrspolitik gehört, so viel lässt sich sagen, auch weiter zu den zentralen Berliner Themen. Denen, die das zivilgesellschaftlich begleiten, wird die Arbeit also nicht ausgehen.

Wie heißt es so schön? Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Wir sollten also dem Neuen und den Neuen eine Chance geben.