Zwischenruf zu sich verziehendem verkehrspolitischen Pulverdampf nach der Wahl

Die Wahl ist vorbei, die Schlachten geschlagen, die Politik muss mit dem Ergebnis umgehen. Es ist unsere Sache nicht, das zu bewerten.

Wir sind einstweilen nur froh:

Das Auto wird nicht verboten werden, Berlin ist auch weiterhin für Autofahrende da, die U7 zum BER und/oder zum Fort Hahneberg werden nicht so schnell kommen und die Friedrichstraße … nun ja. Alle dürfen von ihren verkehrspolitischen Bäumen wieder herabsteigen, sich schütteln und dann (wieder?) sachliche parlamentarische Arbeit machen. In der Regierung, in der Opposition oder, wie im Falle der FDP, Verbänden und Vereinen, auch außerhalb des Parlaments.

Aus unserer Sicht sind die Gretchenfragen in einer zu ändernden Berliner Verkehrspolitik: „Platz“ und „Klima“.

Es ist sicher unstrittig, dass die fünfziger und sechziger Jahre im Westen (aber auch im Osten) mit ihrem Wohlstands- und Fortschrittsversprechen dem Auto als sichtbarem Ausdruck dessen sehr viel Platz einräumten. Die Stilllegung der Straßenbahn im Westen Berlins ist nur ein Zeichen dafür, wurden doch deren Flächen häufig dem motorisierten Individualverkehr (MIV) zugeschlagen. Die Stadt, das darf man wohl behaupten, wurde autogerecht bzw. machte sich auf den Weg zu diesem Ziel. Breite Straßen im Ostteil und nicht zuletzt die Stadtautobahn legen Zeugnis davon ab. Und es ist ja auch wahr: das Auto ist hinsichtlich Flexibilität und Komfort von keinem öffentlichen Verkehrsmittel dieser Welt zu schlagen. Für sicher nicht wenige drückt es auch Prestige und Status aus, was zu merkwürdigen Ausprägungen wie z. B. sehr großen SUV im Stadtverkehr führt. Und oftmals ist es nach wie vor auch das schnellste Verkehrsmittel.

Wir glauben, dass „schwarz“ (Auto) oder „weiß“ (Fahrrad, ÖPNV) nicht die relevante Fragestellung ist. Die allermeisten nutzen schon heute je nach Bedürfnis und Zweck verschiedene Verkehrsmittel. Aber es ist eben nicht jedermanns Sache, 20 km Arbeitsweg bei 0° und Nieselregen auf dem Fahrrad zurückzulegen. Vielleicht nutzt dieser Mensch aber das Rad für kürzere Strecken und fährt zur Arbeit mit den „Öffis“ und manchmal auch mit dem Auto. Oder umgekehrt. Außerhalb der „Blasen in den sozialen Netzwerken“ gibt es diesen Gegensatz oftmals gar nicht. Die Realität ist eben vielschichtig und lässt sich nicht auf ein „entweder oder“ reduzieren.

Zwang ist in einer offenen Gesellschaft kein guter Ratgeber. Und wer will es der hier angenommenen Person verdenken, wenn sie aus Buckow nicht den schlingernden und vollen Gelenkbus nimmt, sondern gleich das vor der Tür stehende Auto? Wer lässt am Bahnhof Hermannstraße das Auto stehen und fährt mit der U8 oder der Ringbahn weiter, wenn er oder sie dort gar keinen Parkplatz findet? U8? Das ist die Linie, von der der stellvertretende IGEB-Vorsitzende und Sprecher, Jens Wieseke, sagt, er benutze sie nicht mehr. Zu dreckig, zu heruntergekommen, zu (gefühlt) unsicher.

Gerade dieses Beispiel zeigt: das offenbar wahlentscheidende Thema „Sicherheit und Ordnung“ spielt auch in manche Aspekte der Verkehrspolitik hinein. Alles hängt eben mit allem zusammen.

Zurück zur Gretchenfrage „Platz“ und „Klima“:

Wer als MIV-Nutzender für sich entscheidet, „Klima“ und „Platzverteilung im öffentlichen Raum“ sind keine relevanten Themen, im Gegenteil, es soll alles so bleiben wie es ist, ist aus der Diskussion ‚raus. Für diese oder diesen muss jede Busspur, jede Ampelbevorrechtigung des Busses oder der Straßenbahn, jeder Radfahrstreifen und auch jede Straßenbahn-Neubaustrecke eine Zumutung sein, weil es dem MIV Platz wegnimmt und ihn verlangsamt.

Wer aber klima- und/oder stadtpolitisch anders denkt oder wenigstens ins Grübeln kommt, der oder die müsste zu dem Ergebnis kommen, dass Verkehr in der Stadt effizienter, vernünftiger organisiert werden kann. Dass die Entwicklungen der letzten sechzig Jahre eigentlich so nicht fortgeschrieben werden können. Und übrigens: nein, das Weltklima wird nicht in Berlin gerettet, aber wir können schon etwas dazu beitragen, unseren überproportionalen Energieverbrauch zu reduzieren. Übrigens, wer sagt, dass das alles immer nur „Verzicht“ bedeutet? Vielleicht gewinnen wir auch etwas.

Es ist also verkehrspolitisch etwas zu verhandeln, zu entscheiden. Die aufgeheizte Debatte im Wahlkampf zeigte: es geht um Emotionen.

Wie aber bekommen wir Sachlichkeit in die verkehrspolitische Diskussion? Hier ein paar – nicht erschöpfende

– Vorschläge:

  • Zwang ist kein Ratgeber. Jede, jeder soll sich grundsätzlich so fortbewegen können, wie er oder sie will.
  • Wir lernen wieder, ein Stück weit respekt- und rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Dies betrifft alle am Verkehr Teilnehmenden. Also jede, jeden von uns.
  • Ein Mindeststandard an Benehmen muss auch im öffentlichen Verkehr durchgesetzt werden. Klingt total altbacken – zugegeben. Aber mehrere Obdachlose (mit entsprechendem olfaktorischen Faktor) in einem Zug der S7 am Sonntagvormittag, dazu die obligatorischen Bettler und ein laut Musik hörender Fahrgast tragen nicht zwingend zur Attraktivität bei. Übrigens auch nicht, ein mitten am Tag an einen ausfahrenden Zug urinierender junger Mann.
  • Die Bevorrechtigung des MIV der letzten sechzig, siebzig Jahre wird sukzessive reduziert, der öffentliche Verkehr wie auch Rad- und Fußverkehr bekommen Flächen zurück.
  • Dies führt zu Konflikten, die ausgehalten werden müssen.
  • Wir hören einander zu. Alter Grundsatz: „Auch der andere könnte Recht haben.“ Gute Kommunikation nimmt Gegenargumente ernst.
  • Maßnahmen müssen klug kommuniziert und erläutert werden. Im besten Falle werden die Menschen „mitgenommen“. Gute Kommunikation spielt nicht gegeneinander aus, predigt nicht den Verzicht, sondern macht Lust auf etwas Neues, ist zukunftsgerichtet.
  • Wenn es herausragende Gründe gibt, können auch Einzelmaßnahmen wie „A 100“ oder „TVO“ realisiert werden. Insgesamt liegt der Schwerpunkt aber auf den anderen Verkehrsarten, was klar kommuniziert und gelebt werden muss.
  • Es gilt der Grundsatz: ein attraktives Angebot ist die Voraussetzung, dass Menschen aus dem Auto umsteigen.
  • Das alles kostet Geld. Wir verlassen hier mal kurz die seriöse Ebene und sagen: muss halt finanziert werden!
  • Innerhalb des öffentlichen Verkehrs werden die Diskussionen „entideologisiert“. Es gibt Aufgaben, für die die U-Bahn prädestiniert ist, es gibt Aufgaben, bei denen ist es die Straßenbahn. Und manchmal auch der Bus. Die U-Bahn ist für große Verkehrsströme geeignet (z. B. Steglitz-Lankwitz), die Straßenbahn für mittlere. Fährt sie auf eigenem Gleiskörper, ist sie ein schnelles, komfortables und preiswertes Verkehrsmittel, das seine Stärken bei entsprechender Nachfrage eher auf Tangentialen oder einer mittleren Großstadt wie Spandau zur schnellen Flächenerschließung ausspielt.
  • Es muss aufhören, dass der Berliner Nahverkehr schlecht geredet wird. Weder bricht gerade in der Innenstadt der (öffentliche) Verkehr zusammen noch ist außerhalb des S-Bahn-Rings alles schlecht. Manche Kommune andernorts wird mit einem gewissen Unverständnis draufschauen, wie in Berlin Diskussionen geführt werden. Die U2 ist ärgerlich, sehr ärgerlich. Und dass nun zur gleichen Zeit der Nord-Süd-Tunnel gesperrt war, war mindestens unglücklich. Aber bricht deswegen nun der Verkehr in der City zusammen? Stand er gar vor einem Kollaps wie zu lesen war? Wohl kaum.
  • Die Berliner U-Bahn ist bis zu 120 Jahre alt; manche Tunnel wurden in wirtschaftlich schwierigen Zeiten gebaut, manche in der Euphorie der 60er. Aber auch die U7 nach Spandau ist bald vierzig Jahre alt. Gibt es also eine ehrliche Bestandsaufnahme über den Sanierungsrückstau jetzt und in den kommenden Jahren? Ist ein 5-Minuten-Takt im Berufsverkehr auf wichtigen Innenstadtlinien ein adäquates Angebot? Zwingt uns der Personalmangel nicht, verstärkt über Automatisierung nachzudenken anstatt über eine Strecke zum Fort Hahneberg?

Man könnte dies fortsetzen und erweitern; Ihnen fallen sicher noch sehr viel mehr Dinge ein.

Der Text ist ein Appell. Ein Appell, einen verkehrspolitischen Plan zu entwickeln, der möglichst weite Teile der Bevölkerung mitnimmt, der Maßnahmen erklärt, der Hierarchien bildet und die jeweiligen Verkehrsträger dort einsetzt, wo sie ihre Stärken haben, der Kompromisse zulässt und anerkennt, es gibt kein „schwarz“ oder „weiß“.

Ist das schon „Bullerbü“, eine Utopie? Oder muss man von den gerade die verschiedensten Konstellationen sondierenden Parteien nicht verlangen, ja fordern, sich in einem stadtpolitisch wichtigen Themenfeld Mühe zu geben? Verlangen, die „Die-gegen-die-Mentalität“ endlich hinter sich zu lassen und einen strukturierten, klaren Plan für die Mobilitätsentwicklung der kommenden Jahre zu entwerfen. Das ist Politik.