Zwischenruf in eigener Sache

Liebe VIV-Mitglieder,
sehr geehrte Damen und Herren,

der eine oder andere von Ihnen kennt das sicher: der Arzt sagt: „weniger Zucker, weniger Fett, weniger Bier/Wein, bewegen Sie sich mehr, nehmen Sie ab, hören Sie auf zu rauchen.“ Klingt nach Verzicht und damit nicht besonders sexy. Die Vernunft sagt: „Ja, mache ich“. Da trifft es sich gut, dass auch die Nacht der guten Vorsätze naht. Und dann? Irgendwann stehen Sie vor dem Kühlschrank oder der Süßigkeitenschublade und müssen sich entscheiden. Oder Sie stehen vor dem Auto und stellen sich die Frage: „Laufen oder doch schnell das Auto nehmen“?

Was hat das mit „Verkehrserklärer“ oder gar „Verkehrspolitik“ zu tun? Wir kommen darauf zurück.

„Verkehrserklärer“ ist seit ein paar Jahren unser Slogan. Warum eigentlich der? Manche nennen ihn auch beliebig und fragen: „Wofür stehen die eigentlich?“ Um ehrlich zu sein: wir würden gerne mehr Verkehrspolitik machen. Aber nicht im Sinne von „Wir fordern mehr dieses, mehr jenes“ (ja, das tun wir auch, siehe z. B. Stammbahn) oder „Die BVG/DB/S-Bahn/ODEG etc. muss endlich …“ Um nicht missverstanden zu werden: das ist berechtigt und wird durch Partnerorganisationen auch sehr gut gemacht!

Unser Anspruch wäre aber zu versuchen herauszufinden, warum etwas so ist wie es ist. Und wie man es ggf. ändern kann. Denn unser Bild von den für ÖV in der Region Verantwortlichen ist, dass sie zunächst einmal ihr Bestmögliches versuchen. Das sind die Experten. Damit „verzwergen“ wir uns keineswegs, aber erkennen an, dass die Dinge in der Realität oftmals komplexer sind. Es braucht also fundiertes Wissen und das ständige Begleiten politischer Prozesse, um qualifiziert mitreden zu können. Das kostet, keine Überraschung, Zeit, viel Zeit. Zeit, die wir als VIV-Verantwortliche z. B. jobbedingt, nicht haben. Aus diesem Grund haben wir uns bereits vor einigen Jahren darauf verständigt, uns als Plattform zu verstehen, die Angebote macht. Angebote an Sie, sich selber ein Urteil zu bilden. Und ja, natürlich ist zuweilen auch ein wenig „Tag der offenen Tür“ dabei. Das ist auch gut so (und findet meistens das regeste Interesse).

Wir kommen zurück auf den ersten Absatz: Die Überschwemmungen im Ahrtal sind zunächst ein Wetterereignis. Klimawandel ist nicht greifbar, er kommt sukzessive und mit ggf. drastischen Auswirkungen in der Zukunft. In der Zukunft unserer Kinder oder Enkelkinder. Es ist ein bisschen so wie mit dem eingangs erwähnten Arzt: die Gefahr ist nicht greifbar. Erst wenn Schlaganfall oder Herzinfarkt eingetreten sind, wissen wir: „Es wäre wohl besser gewesen, …“.

Wenn wir uns, liebe Leserin, lieber Leser, darauf verständigen können, dass die überwältigende Mehrheit der Wissenschaft Recht hat, dann müssen wir als Gesellschaft (der/die Einzelne ist da komplett überfordert) scheinbar etwas tun. Schnell. Nachhaltig. Deutlich.

Unter #Verkehrswende, unser Gebiet, ist eben mehr zu verstehen, als einen Verbrennungs- durch einen Elektromotor zu ersetzen.

Klar ist schon heute: wir werden in Zukunft viel mehr Strom benötigen als heute. Für die Digitalisierung, für die Umstellung der Industrie, für den Verkehr. Wenn wir den regenerativ herstellen wollen, das setzen wir voraus, geht das in Deutschland im Wesentlichen nur mit Wind und Sonne. Das kostet Fläche; wir werden nicht mehr über jedes Windrad streiten können. Die „Nauener Platte“ mag da nur ein Vorgeschmack sein, aber wenn wir energiehungrig bleiben, wird es nicht anders gehen, als mehr Flächen an Land und auf der See für Energieerzeugung zur Verfügung zu stellen.

Dennoch bleibt Strom ein wertvolles Gut. Womit wir wieder beim Verkehr wären. Ist es sinnvoll, das knappe Gut Strom dafür zu verwenden, mit einem 2,5 t schweren Gefährt einen Menschen innerhalb einer gut erschlossenen Stadt (wir reden nicht über das Land, das komplett anders zu betrachten ist) zu transportieren? Wohl kaum.

Wir werden also, so viel ist klar, mindestens in den Städten weniger Auto fahren und wenn, dies mit leichteren Fahrzeugen tun müssen. Auch wenn sie elektrisch angetrieben werden. Nun wissen wir von unserem Arztbeispiel: „weniger“ ist immer schwierig, zumal wenn im Hier und Jetzt die Gefahr nicht konkret erkennbar ist. „Verzicht“ ist zunächst kein schönes Wort.

Wer aber sagt, dass die Zukunft von Askese und Verzicht geprägt sein wird?

Klingen menschenfreundlichere Städte, die nicht wie seit siebzig Jahren an vielen Stellen und mit sehr viel Fläche dem Automobil untergeordnet werden, nach Askese und Verzicht? Oder ist das vielleicht sogar eine ganz attraktive Vision? Klingen mehr noch als bisher gut ausgebaute öffentliche Verkehrsmittel, die in dichtem Takt verkehren, sauber, komfortabel und schnell sind, nach Askese und Verzicht? Zugegeben: wenn Sie heute im Berufsverkehr in einem voll besetzten Scania-Gelenkbus der BVG befördert werden, ist das eine verkehrs- politische Utopie, in der sie sich nach nichts mehr als in Ihr Auto zurückwünschen. Aber das muss ja nicht so bleiben.

Es ist eine politische Aufgabe, Lust auf eine anders gestaltete Zukunft zu machen. Zu zeigen, dass es gehen kann, wie es gehen kann und was das in etwa für jeden persönlich bedeuten könnte. Denn Unwissenheit erzeugt Angst und Abwehr.

Zur Wahrheit gehört aber auch:

Projekte müssen schneller realisiert werden können. Verständliche Interessen von Betroffenen müssen berücksichtigt werden, dürfen aber nicht dazu führen, dass das Allgemeininteresse dauerhaft blockiert wird. Die Straßenbahn am Ostkreuz ist da nur ein kleines Beispiel.

In diesem Sinne werden wir also in Zukunft verstärkt versuchen, Verkehr zu erklären. Denn wir glauben: es muss sich nicht nur in der Verkehrspolitik etwas ändern, sondern auch bei vielen von uns: die Aufgeschlossenheit und die Neugierde auf etwas Neues, Anderes!

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein friedliches Weihnachtsfest und ein gesundes, glückliches, neues Jahr 2022! Bleiben Sie uns gewogen, bitte.

Freundliche Grüße

Michael Rothe