Zwischenruf zur Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl

In wenigen Tagen ist es soweit: Bundestag und Abgeordnetenhaus in Berlin werden gewählt. Manche werden sagen: Endlich.

Ist es möglich, das Thema „Verkehrswende“ in so einem „Zwischenruf“ auch nur ansatzweise abzuhandeln? Wohl kaum. Versuchen wir dennoch einen groben Überblick und laden Sie herzlich zu einem etwas längeren Text als gewöhnlich ein.

Der „Deutschlandtakt“ verheißt der Bahn eine große Zukunft; die Zahlen im Fernverkehr sollen von heute 150 Mio. auf 300 Mio. Fahrgäste 2030 steigen, Güter sollen vom Lkw auf Bahn. Dazu braucht es mehr Züge, die wiederum mehr Infrastruktur benötigen. Großprojekte wie Neubaustrecken fallen darunter, aber auch vermeintlich „einfache“ Dinge wie mehr Gleise, mehr Bahnsteigkanten, mehr Leit- und Sicherungstechnik, niveaufreie Ein- und Ausfädelungen etc. Wenn wir das Planungs- und Genehmigungstempo beibehalten, wird das Ziel deutlich verfehlt werden. Schon jetzt ist die Zeit knapp. Dazu braucht es aber eine neue, auch kritische, Aufgeschlossenheit der Bevölkerung gegenüber Infrastrukturprojekten – wie auch immer man die erreicht. Das ist Politik! Aber der alte Tucholsky-Spruch „vorne die Friedrichstraße, hinten die Ostsee“ passt im übertragenen Sinne auch hier: alles geht nicht.

Natürlich gibt es schon heute attraktive Fahrzeiten im Punkt-zu-Punkt-Verkehr. Wer von Berlin-City nach Hamburg-City möchte, muss, jedenfalls wenn es um Fahrzeiten geht, nicht über Alternativen nachdenken. Benötigt man größeres Gepäck, kann die Sache schon anders aussehen. Und wer dann gar noch, zum Beispiel, nach Jork in das Alte Land will, für den wird es schon schwierig. Ja, klar, es geht mit dem ÖPNV. Manchmal sind es die kleinen Dinge: das Finden der Bushaltestelle zum Beispiel (Linie 436 in Hangelsberg …). Aber auch der Tarifdschungel der einzelnen Verkehrsverbünde mit ihren Waben, Tarifzonen, etc. Wer dann noch den Verkehrsverbund wechselt … Ich unterstelle, dass es auch Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, die Sie dem ÖPNV zugetan sind, zuweilen schwerfällt. Wie soll es denn erst einer/einem hier als „Normalo“ angenommenen Autofahrenden gehen?

Für den Vor- und Nachlauf einer Reise, insbesondere in den ländlichen Regionen, zwischen zwei Knotenpunkten brauchen wir also noch Lösungen, wenn die Verkehrswende im Alltag gelingen soll. Verfügbarkeit (Taktung) und Einfachheit (Tarife, Nutzung) wären hier zwei Stichworte.

Noch ein letzter Gedanke zur Bahn: in den „think tanks“ der Deutschen Bahn wird sicher bereits darüber nachgedacht, was es bedeuten könnte, wenn dereinst die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Verkehr verschwimmen und uns Roboterautos über Nacht von Haus zu Haus bequem über große Entfernungen transportieren. Warum sollte man sich dann noch in ein Massenverkehrsmittel setzen, wenn es auch bequem individuell geht? Keine schöne Frage. Antworten dazu könnte der letzte Teil des Textes enthalten, der sich mit unserem Energieverbrauch beschäftigt.

Wo wir bei Fahrzeiten waren: der rein innerdeutsche Flugverkehr, davon darf man ausgehen, spielt mit besseren Bahnverbindungen (und wohl auch mehr Videomeetings) eine zunehmend geringere Rolle. Von Berlin aus geht es sowieso nur noch nach Frankfurt, München, Köln/Bonn, Düsseldorf und Stuttgart. Bei Stuttgart ist der Flieger heute einfach deutlich schneller, bei Frankfurt/München ist sicher erheblicher Umsteigeverkehr dabei und bei den beiden Zielen im Westen wird die ICE-Linie 10 ab Dezember durch Non-Stop-Züge Berlin-Köln nochmals attraktiver. Aus unserer Sicht sollte man das Thema nicht mit Verboten, sondern Angeboten regeln. Und gute Angebote werden auch angenommen, wie die Gegenwart bereits zeigt.

Das Auto. Immer länger, breiter, luxuriöser und damit schwerer. Aber alles wird gut: Elektromobilität. Wird alles gut?

Versuch einer Annäherung: Deutschland hat sich entschieden, seine Energieversorgung grundlegend umzustellen: Ausstieg aus der Kernenergie, der Kohleverstromung und der Verbrennung von Kohle bei industriellen Prozessen. Wir wollen das hier nicht diskutieren, können aber feststellen: ein ehrgeiziges Ziel.

Schon heute spielen regenerative Energien eine wichtige Rolle in der Stromversorgung. Will man nun den kompletten Strombedarf umstellen, wird klar: es braucht mehr Windräder, mehr Photovoltaik, mehr Wasserkraft, mehr Stromtrassen zum Transport, mehr Bereitschaft der Bevölkerung, diese Eingriffe mitzutragen (siehe oben). Und durch die anstehenden Umstellungen im Verkehrs- und Industriebereich wird der Strombedarf deutlich größer werden. Wir sind keine Physiker, aber es wäre interessant zu recherchieren, z. B. bei den großen Wirtschaftsforschungsinstituten (DIW, ifo, IdW), welche Konsequenzen sich daraus ergeben.

Betrachten wir bei den Themen „Verkehrswende“ und „Auto“ mal nur die Ballungsräume und nicht „das Land“ mit seinen eigenen Herausforderungen, so können wir feststellen, dass in der noch immer autovernarrten Nation (Aufmacher der BILD-Zeitung vom 04.09.2021: „Angst um unser Auto!“) das Produkt Auto wie bisher gedacht wird: nicht kleiner, leichter, smarter, sondern tendenziell länger, breiter, schwerer, leistungsstärker („sportlicher“). Nur eben mit anderem Antrieb. Aber: ist es sinnvoll, im Stadtverkehr zwei Tonnen und mehr zu bewegen, nur um das Kind/den Enkel zur Schule zu bringen, zur Arbeit zu fahren oder eine Kiste Wasser zu transportieren? Ist es sinnvoll, die Stadt mit diesen Boliden vollzustellen und knappen Stadtraum als Parkplatz zu nutzen? Ist es sinnvoll, den wertvollen und knappen regenerativen Strom auch dafür zu verwenden? Für immer mehr Menschen lautet die Antwort: nein.

Wenn wir also unsere Städte lebenswerter machen wollen, muss nach siebzig Jahren Autozentrierung ein Zurückdrängen zugunsten anderer Verkehrsmittel erfolgen. Das Zurückdrängen ist übrigens nicht nur baulich gemeint, sondern fängt schon bei der härteren Bestrafung von Parken auf Geh- und Radwegen, an Kreuzungen, auf Busspuren oder Missachten von Tempobegrenzungen an. Sichtbar wurde in Berlin in den vergangenen fünf Jahren nur, dass einiges für Radfahrende getan wurde (aber auch von den Radschnellwegen ist weit und breit noch nichts zu sehen).

Und wir neigen nach wie vor zur Konfrontation: Auto gegen Fahrrad gegen Fußgänger, U-Bahn gegen Straßenbahn. Die alten Reflexe leben sofort wieder auf: wer für U-Bahn ist, ist gegen Straßenbahn, wer für Auto ist, ist gegen Radfahrende. Und selbstverständlich auch umgekehrt. Wer sich mal in die entsprechende Twitter-Blase begibt, weiß, was gemeint ist. Ist das zielführend? Wohl kaum. Und so würde man von Verkehrspolitik erwarten, dass sie top-down ein Leitbild entwirft, wie städtischer Verkehr zukünftig organisiert werden soll und was die Prioritäten sind. Daraus leiten sich dann Maßnahmen ab. Klar ist aber: wenn eine andere Aufgabenverteilung („modal split“) politisch gewollt und entschieden ist, werden Autonutzende an der einen oder anderen Stelle, wir möchten das Wort eigentlich nicht verwenden, zu den Verlierern gehören.

Was Mut macht: Unsere Verkehrsforen mit den verkehrspolitischen Sprechern haben gezeigt, dass die Parteiprogramme da eigentlich gar nicht so dumm sind! Angebote statt Verbote, zielbezogene Nutzung der einzelnen Verkehrsmittel. Wenn dann der eine oder andere im Eifer des Wahlkampfs in die alte Kampfrhetorik über die Schikanen gegen Autofahrer (wo sind die eigentlich?) zurückfällt: sei es drum. Das sind die Schlachten von gestern.

Was wir in diesem langen Wahlkampf vermisst haben: eine Ahnung davon, was da eigentlich auf uns zukommt. Schlagworte gab es zuhauf. Aber ein Bild dessen, auf was wir uns mittel- bis langfristig in der täglichen Praxis einzustellen haben? Wenn wir voraussetzen, dass die Wissenschaft mit ihren Prognosen richtig liegt, dann besteht (dringender) Handlungsbedarf. Und das ist weit mehr, als den Verbrenner durch einen Elektromotor zu ersetzen. Wir werden, bei weiterhin steigender Weltbevölkerung, weniger Energie verbrauchen müssen, die wir aber intelligenter erzeugen und speichern. Denn zur Wahrheit gehört auch: unser „westlicher“ Lebensstil ist so ressourcenintensiv und, wenn man ehrlich ist, ungerecht, dass ein „Weiter so“ schwerlich zu rechtfertigen ist. Schon gar nicht gegenüber den Armen und aufstrebenden Mittelschichten der Schwellenländer, die das für sich zunehmend ebenfalls beanspruchen. Und wer von uns könnte ihnen das verweigern?

So endet dieser „Zwischenruf“ jenseits der Verkehrspolitik, aber so ist es nun mal: alles hängt mit allem zusammen. Es war der Versuch, Verkehrspolitik ein wenig weiter zu fassen als das Herunterbrechen auf konkrete Projekte im Sinne von „Baut endlich die Stammbahn als Regionalbahnvariante“. Was allerdings stimmt!

Und es bleiben, natürlich, weite Teile unerwähnt:

Wie kam es eigentlich zur Entscheidung „pro Elektro“ und warum? Wurden Alternativen angemessen diskutiert? Was ist mit der sogenannten Externalisierung interner Kosten (Kosten, die ein Verkehrsträger verursacht, die aber von der Allgemeinheit getragen werden)? Wie können wir Verkehr vermeiden? Wie verknüpfen wir die verschiedenen Systeme besser? Wie können jahrzehntelang entstandene Verkrustungen aufgebrochen und rechtsstaatlich Planungs- und Genehmigungsprozesse beschleunigt werden? Sicher fallen Ihnen spontan noch viele weitere Fragen und Themen ein!

Zum Abschluss noch ein persönliches Wort:

Der Autor fährt ein mit Diesel betriebenes Auto, nutzt regelmäßig öffentliche Verkehrsmittel, geht zu Fuß und fährt (zu wenig) Fahrrad. Er trägt also alles andere als einen umweltpolitischen Heiligenschein und ist ein Beispiel dafür, dass es von der Erkenntnis bis zur Umsetzung ein langer Weg sein kann.

Wir wünschen Ihnen am 26. September eine gute Wahl!