Ein Zwischenruf zu den Erfordernissen der Verkehrswende im Kleinen

Versetzen Sie sich bitte in einen Gelegenheitsfahrgast, der oder die mal kurzfristig „den Zug ausprobieren“ möchte und am frühen Sonntagabend von Fulda in den Südwesten Berlins oder nach Potsdam möchte. Dazu gibt es zwischen 18:00 und 19:00 Uhr vier Verbindungen, drei davon über Erfurt, eine über Braunschweig. Die Fahrzeiten betragen zwischen 3 ¾ h und 4 ½ h. Der Flexpreis liegt, je nach gewählter Verbindung, bei ca. 115 € (1. Klasse ca. 190 €). Stolzer Preis, denken Sie sich, aber ist ja ICE. Sie entscheiden sich für Braunschweig.

Der ICE 276 kommt aus Basel und soll Fulda um 18:12 Uhr auf Gleis 6 verlassen, er kommt lt. Anzeige ca. 20 min verspätet (am Ende wird es eine halbe Stunde). Bahnsteigdurchsagen gibt es keine, Personal auch nicht. Sie denken sich: „Gut, dass ich nicht alt oder krank bin“, denn ihr reservierter Platz (in der 2. Klasse 4 € extra) ist im ersten Wagen an der Spitze eines langen ICE. Und dort gibt es keine Anzeige auf dem Bahnsteig. Mehrere ICE fahren an Gleis 6 ein und Sie müssen darauf achten, dass es nicht Ihrer ist. Aber alles klappt, Sie erwischen den richtigen Zug, nächster Halt der „Palast der Winde“, Kassel-Wilhelmshöhe.

Nach Kassel wird es gemütlich, der schnelle ICE fährt auf kurviger Strecke durchs Wesertal. Sehr schöne Strecke, denken Sie sich, aber sie sitzen doch in einem ICE? Das Personal könnte mittels Durchsage Marketing in eigener Sache machen und Verständnis wecken, indem es darauf hinweist, dass auf der Schnellfahrstrecke für Sie, unsere Fahrgäste, gebaut würde und man deshalb auf der Altstrecke fahre. Tut es aber nicht. Und so kommen aus der Reihe vor Ihnen lästerliche Bemerkungen zum „Schnell“zug und Sie als Bahn-Laie denken sich: Stimmt.

In einem Ort namens Eichenberg kommt der Zug zum Halten. Dort stehen schon mehrere Züge. Nach einer Weile gibt es tatsächlich eine Durchsage: Bahnübergangsstörung, Weiterfahrt ungewiss, man stehe im Stau. Hoffnung kommt auf, der ICE auf dem Nachbargleis setzt sich in Bewegung und bald darf auch unser 276 zu nun noch gemächlicherer Fahrt starten. Göttingen wird nach weiteren Zwischenstopps auf freier Strecke mit fast einer Stunde Verspätung erreicht. Der Zugchef macht in Göttingen, Hildesheim, Braunschweig, Wolfsburg seine stoischen Ansagen: „Unser Zug hat aktuell eine Verspätung von 55 Minuten. Wir danken für die Reise mit der Deutschen Bahn/begrüßen Sie im ICE der Deutschen Bahn“. Ein Wort der Entschuldigung oder des Bedauerns? Fehlanzeige. Als sei das Normale, denken sie sich leise.

Spandau. Die Verspätung stabil, Plan 21:46 Uhr, Ist 22:42 Uhr. Die S-Bahn-Verbindung in den Südwesten über Westkreuz ist gerade vor 4 Minuten abgefahren, sie bleiben bis Hauptbahnhof sitzen. Ein Fehler – aber das ahnen sie noch nicht.

Am Nachbargleis verlässt gerade ein anderer ICE Spandau Richtung Innenstadt (für Experten: es ist der ebenfalls eine mehr als halbe Stunde verspätete 945/955 aus Nordrhein-Westfalen). Unser 276 setzt sich nur kurz danach in Bewegung; es geht in Richtung Stadtbahn. Plötzlich im Nirgendwo: Halt. Minutenlanges Schweigen, sehr langes Schweigen.

Dann doch eine Durchsage: Der vor uns fahrende ICE, eben jener 945/955, sei in Charlottenburg in einen Bauzaun gefahren. Weiterfahrt ungewiss. Es folgt erneut: langes Schweigen, keine Informationen. Dann: die Bundespolizei ermittle, das dauere und zurück nach Spandau könne man auch nicht, weil hinter uns ein Zug sei, der nicht „rückwärts“ fahren könne (vermutlich der klassische IC 149 aus Amsterdam, der keinen Steuerwagen hat, übrigens auch eine Stunde zu spät in Spandau).

Die Zeit vergeht, „Mitternacht zog näher schon …“, fällt Ihnen ein. Wer den Weg in das BordBistro sucht, findet kostenloses Wasser. Später wird der Verkauf wieder öffnen, alles was noch da ist, wird kostenlos verteilt. Die Nachfrage ist faktisch null, erstens wird es, Sie ahnen es, nicht durchgesagt, aber, wichtiger, alle wollen nur eines: nach Hause. Da hilft auch kein Snickers.

So sachte machen Sie sich Sorgen, wie Sie eigentlich nach Hause kommen. Und natürlich der unvermeidliche Gedanke: „Wäre ich mal in Spandau …“ – aber es hilft nichts. Das Personal ist ebenfalls frustriert, am Ende ein gebrauchter Tag. Eine Mitarbeiterin des BordBistros sagt, sie müsse nach Berlin Ostbahnhof, der Endstation, noch 100 km nach Hause fahren; die letzte Verbindung in akuter Gefahr. Am Ende wird sie es wohl nicht geschafft haben. Ob der Arbeitgeber ein Taxi bezahlt?

Es ist inzwischen Montag und der 276 setzt sich in Bewegung. Ein paar Meter – und er steht erneut. Dann irgendwann geht es in besserer Schrittgeschwindigkeit durch Charlottenburg. Schnelles Aussteigen in Charlottenburg? Geht nicht. In Zoo? Schon gar nicht. Zwischen Bellevue und Hauptbahnhof kommt ihnen dann um 00:47 Uhr die letzte S7 des Tages nach Potsdam entgegen. Das wäre ihr Zug gewesen, denn der letzte RE1 soll den Hauptbahnhof um 00:41 Uhr verlassen haben. Das Zugpersonal verweist auf den 24 Stunden geöffneten ServicePoint im Hauptbahnhof, Ausgang Europa-Platz, der helfe weiter.

Um 00:49 Uhr erreicht der 276 den Hauptbahnhof, planmäßig 22:00 Uhr. Sie laufen die Treppe hinunter zum Bahnsteig Richtung Westen, blicken nach oben und sehen rote Dostos ausfahren. Erste Reaktion: Mist, der RE1 nun auch noch weg. Aber: es steht groß „FEX“ auf den Wagen, also die Treppe hoch und siehe da: der allerletzte RE1 auch verspätet. Er fährt ein. Sie haben Glück. Aber nur, weil Sie jetzt doch zum mitdenkenden Fahrgast mutiert sind und wissen, das „FEX“ nicht RE1 ist. Der Gelegenheitsfahrgast wäre nachts um eins im Hauptbahnhof gestrandet.

Epilog:

Ja, der Text war lang und deswegen: Danke, dass Sie durchgehalten haben.

Ja, hier hatte das EVU „nicht nur kein Glück, nein, es kam auch noch Pech dazu“.

Ja, es gibt viele, sehr viele, engagierte Eisenbahner/innen, die darunter leiden, wenn es nicht „löppt“. Nein, der Beitrag ist ausdrücklich kein „Bahn-Bashing“, sondern das Gegenteil, Liebe zur Eisenbahn.

So, mögen Sie sich fragen, drückt sich Liebe aus?

Ja, weil der hier angenommene Durchschnittsmensch, vielleicht eigentlich Autofahrender, die Reise so wahrgenommen haben könnte. Und würde er oder sie zu diesem Preis beim nächsten Mal wieder den Zug nehmen? Gemessen an der Bequemlichkeit eines Autos, trotz möglicher Staus, wohl kaum.

Das im Prinzip belanglose Beispiel soll illustrieren, dass das Schlagwort #Verkehrswende nicht nur Neubaustrecken, Reaktivierungen, moderne Züge etc. bedeutet. Nein, Verkehrswende ist auch, neudeutsch, „user experience“. Der öffentliche Verkehr hat mit dem Konkurrenten „Auto“ eine hohe Messlatte. Und da geht es leider nicht nur um Fahrzeit, sondern auch um vermeintliche Nebensächlichkeiten wie Bequemlichkeit, Kommunikation, Hilfestellung. Auch das sollten wir unter #Verkehrswende verstehen. Und dies umso mehr, als in einigen Jahren der dann elektrifizierte MIV als umweltfreundlich verkauft werden wird.