Zwischenruf: „We have a dream …“ oder vom Geist der Improvisation

Als Provisorium ist sie fast schon legendär, die hölzerne Fußgängerbrücke am Bahnhof Yorckstraße über die gleichnamige Straße. Gebaut 1984 nach der Übernahme der S-Bahn in West-Berlin durch die BVG, sollte sie den Nutzern den Umstieg zur U7 erleichtern. Und tut es bis heute, obwohl sie nur provisorisch gedacht war. Es ist, je nach Standpunkt, zu befürchten oder zu begrüßen, dass sie das wohl noch einige Jahre bis zum Neubau des Bahnhofs im Zuge der zweiten Nord-Süd-S-Bahn tun wird.

Andere Provisorien waren von kürzerer Dauer:

Der am Bahnhof Westkreuz in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts eingerichtete Bahnsteig an den Ringbahn-Ferngleisen. Von hier aus fuhren Regionalbahnen nach Nauen, Neuruppin, Templin und an Wochenenden weiter zum (Ausflugs-)Bahnhof Fährkrug.

Der Holzbahnsteig in Michendorf, an dem 1993 nur für wenige Wochen ICE nach Berlin hielten. Weil die Elektrifizierung der Stadtbahn noch nicht fertiggestellt war, leitete man den ICE über den Außenring nach Lichtenberg, und sogenannte ICE-Shuttle übernahmen den Pendelverkehr zwischen City und Michendorf.

Ein weiteres Provisorium: am Bahnhof Bornholmer Straße, vor seinem Umbau, die Einrichtung zweier Seitenbahnsteige an der sog. Ulbricht-Kurve (das war die direkte Verbindung von der Ring- zur Stettiner Bahn entlang der Mauer). Das Ziel war, den Fahrgästen so schnell wie möglich eine Umsteigemöglichkeit zu bieten. Nicht perfekt, aber immerhin vorhanden.

Vier Beispiele aus einer längst vergangenen Zeit, in der man pragmatisch an die Dinge heranging. Und vor allen Dingen: im Sinne der Fahrgäste!

Und heute?

Eine provisorisch verlängerte RB33 von Wannsee nach Zehlendorf oder gar Steglitz? Politisch nicht gewollt, also tot. Und dabei könnte das doch ein Symbol sein, dass man es ernst meint mit dem Ausbau der Schienenwege in und um Berlin.

Provisorisch verlängerte Bahnsteige am RE1, um die im Großraum Berlin aus allen Nähten platzenden Züge verlängern zu können? Geht nicht. Ein Projekt über mehrere Jahre.

Zu wenige Wagen und Triebfahrzeuge? Man fahre beispielsweise nach Mukran auf Rügen und sieht große Mengen abgestellter Fahrzeuge. Und zwar nicht Fahrzeuge, die vierzig oder gar fünfzig Jahre auf dem Buckel haben, sondern deutlich jüngere. Vielleicht nicht klimatisiert und ohne USB-Anschlüsse. Ja klar, irgendjemand muss natürlich die notwendigen Hauptuntersuchungen und evt. erforderliche technische Nachrüstungen, wie z. B. die Notbremsüberbrückung für den Einsatz im Nord-Süd-Tunnel, bezahlen. Das ist so. Aber Fahrzeuge, Wagen, Lokomotiven und Triebwagen sind da. Man muss es im Interesse der Fahrgäste „nur“ wollen. Zugegeben: das Thema Personal ist damit nicht gelöst.

Neue Busspuren? Kürzlich hieß es noch, es würden „noch 2019“ mehrere Kilometer neu eingerichtet. Nun lesen wir: wird nichts, verzögert sich bis in das Jahr 2020. Warum? Keine Schilder, keine Farbe? Oder kein Wille? Und was ist mit dem Freihalten der vorhandenen Busspuren? Warum werden die Bußgelder nicht endlich so erhöht, dass sich die Egoisten, die die Busspur als freien Parkplatz ansehen, überlegen, ob der Preis nicht doch zu hoch ist? Oder diejenigen, die sie als „fast lane“ benutzen, sich nicht fast sicher sein können, nicht erwischt zu werden. Was ist mit Beschleunigungsmaßnahmen für Straßenbahn und Bus an Ampeln?

Übrigens: in der Betriebswirtschaft gibt es die sogenannte „ABC-Analyse“. Die besagt im Wesentlichen, dass man 80 % Nutzen mit 20 % Aufwand erzielen kann. Will sagen: mit relativ wenig Aufwand erzielt man hohen Nutzen. Und für die restlichen 20 % Nutzen „bis zur Perfektion“ muss man 80 % Aufwand in Kauf nehmen. Auch hier die Erkenntnis: „provisorisch“ oder besser pragmatisch kann man mit überschaubarem Aufwand einiges erreichen. Eben nicht perfekt.

Wo ist er also hin, der Improvisationsgeist der 90er, das Interesse an einfachen, pragmatischen Lösungen? Wir wissen es nicht. Leider.

Und wenn Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, noch weitere Provisorien in dem beschriebenen Sinne einfallen, dann schreiben Sie uns gerne! Vielleicht kann daraus auch eine VIV-Veranstaltung 2020 entstehen.

Freundliche Grüße

Michael Rothe