Zwischenruf: Verkehr erklären!

Vor ziemlich genau einem Monat hatten wir uns schon einmal mit dem 9-€-Ticket beschäftigt. Und es bleibt aus unserer Sicht die wirklich geniale Idee, die Fahrt mit dem öffentlichen Verkehr bundesweit einfach zu gestalten! Niemand muss sich mit Tarifzonen, Waben, Streifenkarten und dergleichen mehr beschäftigen. Ganz einfach einsteigen und losfahren – egal ob in Kiel oder Konstanz, Rostock oder Regensburg. Wenn das dauerhaft so bliebe, wäre es ein grandioser Erfolg. Allein, man muss zweifeln …

Nun ist er also gestern unter großer medialer Aufmerksamkeit gestartet, der große Versuch. Der RBB schickte in der 21:45-Uhr-Ausgabe seiner Nachrichtensendung den bemitleidenswerten Reporter in die Ringbahnhalle des Bahnhofs Ostkreuz. Offenbar in der Erwartung, dass massenhaft Feierwütige mit dem Ticket nach Friedrichshain kommen würden. So aber musste er über das große Nichts berichten. Denn es geschah natürlich: nichts.

Interessanter wird es da schon am (Pfingst-)Wochenende. Für Samstag meldet eine große Suchmaschine: „Warnemünde, sonnig, 16°“, für Sonntag „überwiegend sonnig, 21°“. Und für Binz oder Westerland ist es nicht viel anders prognostiziert. Man muss kein Prophet sein, um anzunehmen, dass es in den Zügen zur Ostsee oder der Marschbahn nach Sylt noch voller sein wird als zu normalen Zeiten ohnehin schon. Der mit einem maliziösen Lächeln vorgetragene Rat des Bundesverkehrsministers, man solle dann eben einen Zug später nehmen, wird dem einen oder anderen sicher noch bitter aufstoßen.

Eben jener Bundesverkehrsminister sagt auch, es sei gut, dass der öffentliche Nahverkehr nun in aller Munde sei. Wer wollte dem widersprechen?

Besser aber wäre es, wenn den Menschen auch erklärt würde, warum die Dinge so sind wie sie sind. Es bräuchte in diesem Sinne auf breiter Front „Verkehrserklärer“!

Beispiel: Warum können wir nicht einfach den Zug verlängern? Antwort: Weil wir in den letzten dreißig Jahren die Infrastruktur häufig darauf ausgerichtet haben, was ist. Nicht, was sein könnte oder sein sollte. So haben wir Bahnsteige gebaut, an die die bestellten fünf Doppelstockwagen passen, die Lokomotive aber schon nicht mehr. Geschweige denn ein sechster oder siebenter Wagen. Oder weil wir es zulassen, dass Aufgabenträger auf breiter Front „nicht-skalierbare“ Züge in die Ausschreibungen aufnehmen. Man kann eben einen Triebzug wie KISS (ODEG) oder TALENT (DB) nicht einfach verlängern. Und selbst dort, wo wir es könnten (Wendezüge mit Lokomotive), können wir es doch nicht, weil die Fahrzeuge nicht da sind. Kein wirtschaftlich agierendes Unternehmen stellt sich Betriebsmittel auf den Hof, die maximal an zwei von sieben Tagen gebraucht werden. Und das auch nur bei schönem Wetter. Es sei denn, ein Auftraggeber, die Aufgabenträger, bezahlt dafür. Übrigens, die Aussage, es gäbe keine Fahrzeuge, stimmt so pauschal nicht. Bei der Deutschen Bahn gibt es das sog. Stillstandsmanagement, was für sich schon eine wunderbare Wortschöpfung ist. Stillstandsmanagement gibt es z. B. in Mukran auf Rügen. Abgestellte Doppelstockwagen aus den Neunzigern, zugegebenermaßen in der Regel ohne Klimaanlage, oder Triebwagen, die die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer eines Eisenbahnfahrzeugs noch nicht erreicht haben. Nicht mehr gebraucht, weil Aufgabenträger Neufahrzeuge gefordert haben. Ist das nachhaltig?

Diese Fahrzeuge haben aber keine Fristen mehr, können also nicht so einfach in Betrieb genommen werden. Es bräuchte Investitionen.

Zur Ehrenrettung der Aufgabenträger: der VBB hat in seiner aktuellen Ausschreibung „Alt“fahrzeuge akzeptiert: Doppelstockwagen, Lokomotiven und Triebwagen werden gerade modernisiert.

Das Beispiel der oft gehörten Frage „Warum hängen die nicht einfach weitere Wagen an?“ skizziert, woran es mangelt: Zum einen Kommunikation mit „offenem Visier“. Zu benennen, dass der schienengebundene Verkehr in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt wurde und dass das System der Ausschreibungen auch seine Fehler hat. Zum anderen Perspektiven aufzeigen, wie es, sagen wir innerhalb von zehn Jahren, besser werden kann. Der Hinweis, doch bitte einen Zug später zu nehmen, hilft da nicht weiter. Denn wer kann und nicht gerade „Überzeugungstäter“ ist, sitzt bei nächster Gelegenheit wieder im bequemen Pkw. Mit Tankrabatt. Aber das ist ein anderes Thema …

Nachtrag:

Nutzen Sie doch mal die stark einstellungsbedrohte RB 63 zwischen Eberswalde und Templin Stadt. Weil hier am Tag kaum 100 Reisende mitfahren, will das Land Brandenburg den Verkehr abbestellen. Los geht es zum Beispiel (Abfrage bahn.de für Sonntag, 05.06.2022): 09:08 Uhr ab Lichtenberg mit RB 24 bis Eberswalde (an 09:48 Uhr) und weiter mit der RB 63 um 10:17 Uhr, Ankunft z. B. Joachimsthal 10:38 Uhr. Rückfahrt mit Umsteigen in Templin (RB 12) um 15:25 Uhr oder 17:25 Uhr. Oder wieder über Eberswalde, was etwas schneller geht – aber da kommen die Ostseerückkehrer … Und wer eine Petition für den Erhalt unterschreiben möchte, kann das hier tun: Petition